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Die klassische Definition von Sexualtherapie
Die klassische Definition von Sexualtherapie (engl. sex therapy– daher auch im Deutschen manchmal die Bezeichnung Sextherapie) -in Anlehnung an Masters und Johnson, die beiden Pioniere der Sexualtherapie in den 60er Jahren- lautet: Sexualtherapie ist eine Strategie, um die sexuelle Funktionalität zu verbessern und sexuelle Störungen zu heilen.
Typische Aufgabenbereiche für die Sexualtherapie sind demnach die Behandlung von Störungen wie vorzeitiger Samenerguss (ejaculatio praecox), Potenzschwierigkeiten, Erektionsstörungen, Verlust des sexuellen Interesses und Schmerzen beim Sex (z.B. Vaginismus).
In weiterem Sinne kommen zu diesen körperlichen Symptomen dann noch die Therapie ungewöhnlichen oder abweichenden Sexualverhaltens dazu, wie etwa Paraphilien, Unsicherheit über die eigene Geschlechtszugehörigkeit, mangelndes sexuelles Selbstvertrauen oder zu starker Sexualtrieb (Hypersexualität).
Diese Definition von Sexualtherapie ist in mehrfacher Hinsicht problematisch:
- Letztlich steht nur der Mann und sein körperliches Funktionieren im Vordergrund.
- „Gesunder, normaler Sex“ wird streng normiert. Das klare Ideal ist der gemeinsame Orgasmus von Mann und Frau im Koitus- andere Formen von Sexualität werden als unreif oder abnorm abqualifiziert.
- Homosexualität wird -zumindest in den Anfangsjahren der Sexualtherapie- als zu behandelnde Krankheit angesehen.
Diese Vorstellung von Sexualtherapie als Hilfe zur Beseitigung sexueller Funktionsstörungen wie z.B. Erektionsstörungen ist bis heute weithin verbreitet. Viele, auch aktuelle Lehrbücher der Sexualtherapie unterrichten körperliche Übungsmodelle für den Sex, mit denen Schritt für Schritt Mann und Frau zum gemeinsamen Orgasmus im Koitus hinerzogen werden sollen ( so etwa R. Maß, R. Bauer: Lehrbuch der Sexualtherapie, Stuttgart 2016, S.259ff).
Auf dem Weg zu
einer Neudefinition von Sexualtherapie
Die neueste Forschung zum Thema Missbrauch und sexuelle Traumatisierung (vgl. M. Büttner: Sexualität und Trauma, Heidelberg 2017) hat eine Vielzahl psychotherapeutisch relevanter sexueller Störungsbilder aufgezeigt, die weit über Orgasmusprobleme im Koitus von Mann und Frau hinausgehen.
So können zum Beispiel Schmerzstörungen, die nicht die Sexualorgane betreffen, ihren Ursprung in negativen sexuellen Erfahrungen haben. Andere Störungsbilder mit möglicher (Mit-)Ursache im sexuellen Bereich sind dissoziative Störungen, PTBS nach Missbrauchserlebnis, Depressionen, bipolare Störungen, Angststörungen, Zwangsstörungen, Substanzmissbrauch, Alkoholkrankheit, Essstörungen, Persönlichkeitsstörungen und Schizophrenie (Büttner, S.135ff).
Von daher schlage ich folgende Neudefinition von Sexualtherapie vor, wie ich sie selbst in meinem Ausbildungskurs in der Akademie für Sexualtherapie (AKST) unterrichte : Sexualtherapie ist ein psychotherapeutisches Hilfsangebot für Menschen mit Problemen im Bereich Sexualität.
Mit dieser Definition ist die Beschränkung der „klassischen“ Sexualtherapie auf die Behandlung von Schwierigkeiten von Paaren beim Vollzug des Koitus aufgegeben. Gleichermaßen ist Sexualtherapie nach dieser Definition kein körperliches Trainingsprogramm, welches den Klienten zu besseren oder intensiveren sexuellen Erfahrungen verhelfen könnte.
Sexualtherapie:
Das breite Spektrum der Angebote
Sexualtherapie ist in Deutschland (bis jetzt) kein geschützter Begriff, so dass sich mit „Sexualtherapie“ die unterschiedlichsten Konzepte und Methoden verbinden.
Das geht von universitärer Forschung bis hin zu Tantra-Gruppen-Seminaren mit körperlichen Erotik-Übungen, die mehr im esoterischen als im psychotherapeutischen Bereich verwurzelt sind., sowie Trainingsprogrammen, die durch Masturbationsübungen Abhilfe bei Erektionsstörungen versprechen. Dementsprechend sind auch die Ausbildungen der Therapeuten wie auch die Qualität der Veranstaltungen höchst unterschiedlich.
Wer sich also eine Sexualtherapie wünscht, tut gut daran, sich im Vorfeld zu informieren, was der jeweilige Anbieter eigentlich darunter versteht.
Sexualtherapie: historische Wurzeln
Die Beschäftigung mit Sexualität und den Möglichkeiten, den Umgang mit der eigenen Sexualität zu verbessern, ist so alt wie die Geschichte der Menschheit.
Eine ausgezeichnete Einführung dazu gibt der französische Philosoph Michel Foucault in seiner „Histoire de la séxualité“ (4 Bände veröffentlicht), deutsch unter dem Titel als „Sexualität und Wahrheit“ erschienen.
Anfänge in der antiken Literatur
Bereits im antiken Griechenland gibt es zahlreiche Schriften, die sich mit dem Thema „Was ist eine gesunde und lustbringende Sexualität?“ auseinandersetzen, so etwa Platon in seinem-übrigens sehr unterhaltsam zu lesendem- Dialog „Symposion“ (dt. „Das Trinkgelage“) oder Xenophon in seinem Werk „oikonomikos„. Im Zentrum steht hier der richtige Umgang mit der sexuellen Lust, die als prinzipiell kostbares Gut gesehen wird, mit dem aber sorgfältig zu haushalten ist.
Die restriktive Haltung der Kirche
Eine fundamentale Wende im Blick auf die menschliche Sexualität ergibt sich im frühen Christentum. Sexualität, die nicht direkt als Mittel zur Zeugung von Kindern im Rahmen der Ehe erfolgt, wird als Sünde und Abwendung von Gott gesehen, so etwa beim Kirchenvater Augustinus, der als junger Mann ein ausschweifendes Sexualleben führte und in seinen confessiones darüber ausführlich berichtet. Das Ideal ist der Verzicht auf Sexualität, die Keuschheit, wie sie insbesondere von den Amtsträgern der Religion gefordert wird.
Diese christliche Sichtweise hat sich im europäischen Raum weithin bis ins 19. und 20. Jahrhundert gehalten, und wird insbesondere von der katholischen Kirche bis heute vehement aufrechterhalten.
Sexualtherapie erscheint in diesem Zusammenhang nur als Erziehungsmodell hin zum Koitus, der ausschließlich in der ehelichen Beziehung zwischen Mann und Frau seine Berechtigung hat. Andere Formen der Sexualität und insbesondere Homosexualität werden abgelehnt.
In evangelikalen Kreisen gibt es bis heute sogenannte „Konversionstherapien“, die homosexuelle Menschen zu Heterosexuellen umerziehen wollen. Solche „Therapien“ richten bei den Betroffenen schwere psychische Schäden an und sollen in Deutschland demnächst gesetzlich verboten werden. Siehe Beitrag Deutschlandfunk vom 19.6.2019.
Die Kritik der Aufklärung
Die Kritik an der rigiden Sexuallehre der Kirche wurde erstmals von den Philosophen der französischen Aufklärung formuliert. Einer der schärfsten Kritiker der kirchlichen Sexualmoral ist Marquis de Sade, der in seinen Werken erstmals Missbrauch durch kirchliche Würdenträger ausführlich (und sehr zynisch) darstellt, beispielsweise in seinem Buch „100 Tage von Sodom„.
Offiziell verlangt die Kirche Keuschheit und Enthaltsamkeit, tatsächlich ist der Klerus zu den schlimmsten Formen sexuellen Übergriffes fähig. Nicht Restriktion und rigide Moralität führen zum (sexuellen) Glück des Menschen, sondern ein lebensfroher und selbstbewusster Umgang mit Sexualität (vgl. den Roman „Juliette oder die Vorteile des Lasters“ von 1797.
Die Medizin des 19. Jahrhunderts
Die „bürgerliche Wende“ des 19. Jahrhunderts, wie sie etwa Mozart im Finale des Don Giovanni bereits 1787 aufzeichnet, bedeutet eine klare Abkehr von den als zu freizügig empfundenen Ideen der Aufklärung. Sexuelle Prüderie wird zur offen daher getragene Norm (bei gleichzeitiger Verletzung dieser Norm durch massive sexuelle Übergriffe etwa in Schulen, Klöstern oder gegenüber Untergebenen wie z.B. Dienstmädchen).
Jedes öffentlich gezeigte abweichende Sexualverhalten (wie z.B. die von Oscar Wilde gelebte Homosexualität) wird entweder kriminalisiert oder als Folge von geistiger Erkrankung gesehen.
Im Bereich der Medizin hat sich in diesem Kontext das Konzept von der sexuellen „Perversion“ entwickelt. Wichtigster Vertreter dieser Schulmeinung ist der österreichische Psychiater Richard von Krafft-Ebing, der 1875 in seinem Buch zur Sexualpathologie männliche Homosexualität als eine Form „verkehrter“, d.h. „perverser“ Sexualität interpretierte, die er als degenerative Erbkrankheit bezeichnete.
Sigmund Freud und die Behandlung sexueller Störungsbilder
Sigmund Freud revolutionierte die medizinischen Theorien des 19. Jahrhunderts durch die Entdeckung, dass psychische Störungsbilder nicht notwendigerweise in einer körperlichen Krankheit begründet sein müssen, sondern die Ursache in eigenen Lebenserfahrungen, insbesondere aus der frühen Kindheit, haben können.
In der Arbeit mit seinen Patientinnen und Patienten (der „Gesprächskur“, aus der sich die spätere Psychoanalyse entwickelte), begegnete Freud eine Vielzahl von Geschichten sexueller Übergriffe.
Freud selbst, der zunächst an den realen Hintergrund dieser Schilderungen glaubte (und damit beinahe die moderne Traumatherapie begründet hätte), gab schließlich aber doch den gesellschaftlichen Erwartungen nach und bewertete solche Schilderungen als kindliche sexuelle Fantasien.
Sexualwissenschaft und Sexualtherapie
in Deutschland im 20. und 21. Jahrhundert
Im liberalen Umfeld der 20er Jahre entwickelte sich Deutschland zu einem Zentrum der Sexualwissenschaft. Magnus Hirschfeld gründete 1919 in Berlin das Institut für Sexualwissenschaft, das neben der Forschung gleichzeitig als Sexualberatungsstelle fungierte.
Hirschfeld leistete bahnbrechende Forschungsarbeit, um aufzuzeigen, dass Homosexualität eine gesunde und absolut gleichwertige Form menschlichen Sexualverhaltens neben der Heterosexualität ist. Schon 1931 musste Hirschfeld wegen offener Anfeindungen durch Nationalsozialisten Deutschland verlassen, sein Institut wurde 1933 geschlossen, Archiv und Bibliothek verbrannt.
Nach dem zweiten Weltkrieg gründete der Arzt und Sexualforscher Hans Giese die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS) und 1959 das Institut für Sexualforschung am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. In diesem Rahmen wurde in den 70er Jahren das „Hamburger Modell“ der Sexualtherapie entwickelt.
Eine Nachfolgeeinrichtung für das von den Nationalsozialisten zerstörte Berliner Hirschfeld-Instituts entstand erst 1996 nach der Wende mit dem Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin an der Humboldt-Universität. Gemeinsam mit der Berliner Fachgesellschaft – der Deutschen Gesellschaft für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft (DGSMTV),- liegt der Schwerpunkt jetzt aber mehr auf Fragen der Sexualmedizin.
Das renommierte Frankfurter Institut für Sexualwissenschaft (gegründet 1973) unter Leitung von Volkmar Sigusch wurde 2010 geschlossen (vgl. den Bericht zur Schließung des Frankfurter Instituts für Sexualwissenschaft in der SZ)- ein Zeichen dafür, dass das Interesse an Sexualwissenschaft und Sexualtherapie in Deutschland deutlich zurückgegangen ist.
Aktuell kommen sexualtherapeutische Themen in allen drei Regelverfahren zur Ausbildung psychologischer Psychotherapeuten (Psychoanalyse, Verhaltenstherapie, tiefenpsychologisch-fundierte Therapie) de facto kaum oder gar nicht vor.
Sexualtherapie gehört nicht zu den Regelleistungen der Krankenkassen. Betroffene müssen Therapiestunden bei freien Therapeuten nehmen und persönlich bezahlen.
Sexualtherapie:
Die bekanntesten heutigen Therapieverfahren
Masters und Johnson
Der amerikanische Arzt William Masters und seine Mitarbeiterin Virginia Johnson revolutionierten in den 60er Jahren die Sexualforschung. Bis heute ist das von Ihnen entdeckte Modell der vier Stufen der sexuellen Erregung eine bahnbrechende Entdeckung der Sexualwissenschaft.
Kritischer werden heute ihre therapeutischen Ansätze gesehen, die Sexualität nahezu ausschließlich auf den gelungenen Orgasmus von Mann und Frau im Koitus reduzierten (vgl. meinen Artikel über Normsex). Dabei handelt es sich um schrittweise praktizierte sexualtherapeutiche Übungen (Sensate Focusing), die vom gegenseitigen Betrachten und Zeigen des nackten Körpers bis hin zum Koitus führen.
Dieses Modell wird bis heute in Abwandlungen weitergelehrt, so etwa im Lehrbuch der Sexualtherapie von Reinhard Maß und Renate Bauer (Stuttgart 2016).
Systemische Sexualtherapie
Hauptvertreter der systemischen Sexualtherapie in Deutschland ist Ulrich Clement. Auch er arbeitet ausschließlich mit heterosexuellen Paaren: „Mein Konzept einer systemischen Sexualtherapie setzt beim Unterschied des Begehrens der beiden Partner an.“ (U. Clement: Systemische Sexualtherapie. Stuttgart 2004, S.8)
Ein wichtiges von ihm entwickeltes Werkzeug ist das „Ideale sexuelle Szenario“ (ISS), in dem jeder Partner seine idealen und egoistischen sexuellen Wünsche aufschreibt und sie -nach eigenem Willen- im Rahmen der Therapie dem Partner gegenüber schrittweise offenlegt.
Das Hamburger Modell
Vielleicht am bekanntesten in Deutschland ist das „Hamburger Modell“ der Sexualtherapie, entwickelt am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf seit den 70er Jahren durch G. Arantewicz und G. Schmidt. Ziel ist vor allem die Auflösung von Erwartungsdruck und Versagensangst, die z.B. zu Erektionsschwierigkeiten und anderen sexuellen Problemen führen können.
Therapeutisch steht die Arbeit mit Paaren im Vordergrund, wobei die praktischen Übungen des Sensate Focusing nach Masters und Johnson für das Hamburger Modell in leichter Abwandlung übernommen wurden.
Störungsbildorientierte Sexualtherapie
Nach meiner eigenen Erfahrung begeben sich heute deutlich mehr Einzelpatienten und Patientinnen in eine Sexualtherapie als Paare. Die Störungsbilder, mit denen KlientInnen in die sexualtherapeutische Praxis kommen, sind deutlich breiter aufgestellt und beschränken sich nicht auf sexuelle Funktionsstörungen wie Erektionsstörungen oder Orgasmusprobleme.
Deswegen berücksichtige ich in meinen eigenen Fortbildungen an der Akademie für Sexualtherapie (AKST) nicht nur die „klassischen“ körperlichen sexuellen Störungsbilder, sondern auch Hypersexualität, sexuelle Zwangsstörungen und viele andere Gründe für sexuelle Probleme und Probleme im Bereich der Partnerschaft.
Mein Vorschlag ist, sich wieder auf die Ursprünge der Sexualtherapie zurückzubesinnen, wie sie von Sigmund Freud und Magnus Hirschfeld entwickelt wurden und die sehr viel stärler auf das Individuum und den Einzelpatienten ausgerichtet waren als das Therapiemodell von Masters und Johnson, das vor allem das sexuelle Funktionieren des Paares in den Blickpunkt genommen hatte.
Wichtig erscheint mir auch, Sexualtherapie nicht ausschließlich als ein Therapieverfahren zu sehen (etwa im Sinne des Sensate Focusing), wo nach festen Vorgaben die Abfolge bestimmter Übungen oder das Durcharbeiten eines vorgefassten Manuals Grundlage der Behandlung werden könnte.
Ich plädiere daher für eine „Störungsbildbezogene Sexualtherapie“, die den Klienten und die Klientin in den Focus stellt und das, was diese als sexuelles Problem in die Praxis mitbringen. Eine genaue Diagnosestellung (nach den Kriterien der ICD-10 und den Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation WHO) ist meines Erachtens unverzichtbar, um dann je nach Störungsbild die geeignete therapeutische Methode zu nutzen (z.B. kognitive Verhaltenstherapie, Suchttherapie, Traumatherapie etc.).
Was ist eine sexuelle Störung?
in der sehr von der Medizin geprägten Sicht in den 60erJahren lag der Focus der Sexualtherapie bei den körperlichen sexuellen Funktionsstörungen, also bei der erektilen Dysfunktion (Erektionsstörung), beim vorzeiten Samenerguss (ejaculatio praecox) und beim Vaginismus (Scheidenkrampf).
Therapieverfahren, die in dieser Zeit ihre Wurzeln haben (Sensuate Focusing, aber auch Hamburger Modell) sehen sexuelle Störungen vor allem als ein körperliches Problem, das durch bestimmte Übungen nicht unbedingt geheilt, aber doch gelindert werden kann.
In der Sexualtherapie ist der sehr viel breitere Ansatz bei der Behandlung sexueller Störungen, wie er in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts etwa bei Sigmund Freud oder Magnus Hirschfeld selbstverständlich war, weithin verloren gegangen.
Die verengte Definition „Sexuelle Störung = körperliche Funktionsstörung“ kann nach den neueren Erkenntnissen der Psychosomatik so nicht aufrechterhalten werden.
Körperliche sexuelle Probleme können psychische Ursachen haben: und diese Ursachen (wie z.B. eine depressive Episode) können durch körperliche Übungen nicht zielgerecht behandelt werden.
Daher plädiere ich für eine umfassendere Definition sexueller Störungen: Eine sexuelle Störung ist ein Problem, das einen Menschen oder ein Paar daran hindert, Sexualität genussvoll leben zu können. Eine solche Störung kann sich körperlich und/oder psychisch manifestieren.
Die Notwendigkeit der medizinischen Abklärung bei sexuellen Störungen
Eine wichtige Voraussetzung ist bei allen sexuellen Störungen im Vorfeld jeder Sexualtherapie zu prüfen: Viele Probleme im Bereich der Sexualität haben nicht nur psychische Gründe, sondern auch körperliche Ursachen (z.B. unentdeckte Diabetes). Deshalb ist immer auch die medizinische Seite zu checken, bevor mit einer Psychotherapie begonnen werden kann.
Eine sexualtherapeutische Beratung oder eine Sexualtherapie, die mögliche medizinische Hintergründe außer Acht lässt oder gar von ärztlichen Untersuchungen abrät, ist absolut unverantwortlich.
Die häufigsten sexuellen Störungen
und ihre Ursachen
Nachfolgendes Schema zeigt die häufigsten sexuellen Störungen und sexuellen Probleme, wie ich sie selber bei meinen Klientinnen und Klienten in der Praxis erlebe. Angeführt sind auch mögliche ursächliche Störungen.
So können zum Beispiel körperliche sexuelle Funktionsstörungen, für die es keine medizinische Ursache gibt, die psychische Ursache in Angststörungen, Depressionen, Suchterkrankungen oder Missbrauchserfahrungen haben.
Und je nach Ursache gilt es, ein völlig unterschiedliches therapeutisches Vorgehen zu wählen: So wäre etwa bei einer Depression zunächst ein verhaltenstherapeutisches Aktivierungsprogramm mit anschließender Bearbeitung negativer Kognitionen erforderlich. bei einer Traumafolgestörung infolge von Missbrauch dagegen eine behutsame Form der Traumatherapie, die zuallererst auf die emotionale Stabiliierung des Klienten/der Klientin zielt und dann Schritt für Schritt Umgangsformen mit dem traumatischen Erlebnis vorbereitet.
Verbreitung sexueller Störungen
Sexuelle Störungen kommen sehr häufig vor: bei allen Geschlechtern und in allen Lebensaltern. Wahrscheinlich gibt es sehr wenig Menschen, die in ihrem Leben niemals zumindest zeitweise unter einer sexuellen Störung leiden.
Hauptursache für sexuelle Störungen sind neben medizinischen Gründen wie etwa hormonellen Störungen vor allem falsche Vorstellungen über ich selbst und die eigene Sexualität. Insbesondere das Idealbild vom Normsex kann zu einem nicht erfüllbaren Leistungsdruck im Gebiet der Sexualität führen und dadurch sexuelle Störungen auslösen.
Nachdem etwa 10% der Bevölkerung in Deutschland sexuelle Missbrauchserfahrungen in der Kindheit machen mussten, liegt hier eine weitere häufige Ursache für sexuelle Störungen vor, die sich als Sexualangst, aber auch als Hypersexualität äußern kann. Ebenfalls ist nach einem Trauma durch Missbrauch bei Betroffenen ein Leidensdruck durch sadistische oder masochistische sexuelle Wünsche möglich, die als nicht der eigenen Person zugehörig empfunden werden.
Was passiert eigentlich bei einer Sexualtherapie?
Unterschied Sexualberatung und Sexualtherapie
>Sexualberatung und Sexualtherapie (oder auch: Paarberatung und Paartherapie)- das sind Begriffe, die zwar sehr ähnlich klingen, aber etwas völlig anderes bedeuten. Eine Beratung darf jeder und jede frei auf dem Markt anbieten- ohne irgendwelche Ausbildung oder anderen Qualitätsstandards oder formale Voraussetzungen.
Eine solche psychologische Beratung darf aber nur psychisch gesunden Menschen angeboten werden. Beratung kann helfen, äußere schwierigen Lebensumstände besser in den Griff zu bekommen (z.B. organisatorische Schwierigkeiten nach dem Umzug in eine andere Stadt). Wenn es aber nicht um solche äußeren Umstände geht, sondern um psychische Störungen (z.B. Gefühl der Niedergeschlagenheit und Depression nach einem solchen Umzug), dann muss der Berater/die Beraterin die eigene Tätigkeit beenden und zur psychotherapeutischen Behandlung weiterschicken.
In der Praxis ist es so, dass nur sehr wenig psychisch rundum gesunde Menschen eine psychologische Beratung benötigen. Das gilt erst recht im Bereich Sexualität. Wer sexuelle Probleme mit sich oder in der Partnerschaft hat, benötigt also keine Sexualberatung, sondern definitiv eine Sexualtherapie.
Sexualtherapie-
Einzeltherapie oder Paartherapie?
Bei sexuellen Problemen, die ein Paar betreffen, ist es grundsätzlich am besten, beide Partner sind bei der Therapie gleichermaßen dabei.
Es ist vor allem wichtig, dass beide von Anfang an gleichermaßen beteiligt sind. Ein guter Therapeut wird sich die Vereinbarung der allerersten Therapiestunde von beiden Partnern persönlich am Telefon bestätigen lassen, um sicher zu sein, dass hier nicht einer von beiden nur zur Therapiestunde „mitgeschleift“ wird. Denn eine Paartherapie kann nur dann sinnvoll sein, wenn beide Partner sich die Therapie gleichermaßen wünschen.
Natürlich gibt es aber auch Fälle, wo es nicht möglich ist, den Partner für die Therapie zu gewinnen oder wo es um Themen geht, die tatsächlich nur einen Einzelklient bzw. eine Einzelklientin betreffen (z.B. sexuelle Zwangsgedanken). In solchen Fällen ist natürlich eine Einzeltherapie die richtige Lösung.
Ablauf und Setting einer Sexualtherapie:
in der Praxis, am Telefon und Online-Beratung
Grundsätzlich gilt bei einer guten Therapie, dass der Klient bzw. die Klientin mit ihren Wünschen den Vorrang vor starren Ideen von Seiten des Therapeuten haben.
Das beginnt schon beim Setting, also den äußeren Rahmenbedingungen. Der Klient bzw. die Klientin wählen, ob sie jede Stunde lieber persönlich in die Praxis kommen oder ob Gespräche per Telefon oder Video als Online-Beratung für sie passender sind. Verschiedene Studien zur Therapieforschung haben gezeigt, dass es hier keine qualitativen Unterschiede hinsichtlich des Therapieerfolgs gibt. Und viele Menschen sprechen leichter über sexuelle Themen am Telefon als beim direkten Gespräch in der Praxis.
Üblicherweise vereinbare ich mit meinen Klienten und Klientinnen erst einmal eine einzige gemeinsame Sitzung. Danach können wir dann gemeinsam überlegen, ob weitere Sitzungen folgen sollen. Schließlich ist ein gutes menschliches Miteinander die wichtigste Voraussetzung für eine gelingende Therapie (weit wichtiger als die angewendeten Therapieverfahren!), Und nur wenn dieses Miteinander stimmt, macht es Sinn, weitere Sitzungen zu vereinbaren.
Eine gute Diagnostik
als Grundlage der Sexualtherapie
Die erste oder möglicherweise auch die ersten Stunden einer Therapie dienen dazu, eine gute Diagnostik zu unternehmen (psychologische Anamnese) und genau festzustellen, ob bzw. psychische Störungen hinter den sexuellen Problemen eines Einzelklienten oder eines Paares stehen können.
Wichtigstes Werkzeug dazu ist das therapeutische Gespräch, in welchem z.B. nach der Biografie, nach möglichen Vorerkrankungen, nach Besonderheiten in der Herkunftsfamilie gefragt wird. Ergänzend können auch Fragebögen als Hilfsmittel genutzt werden, wie z.B. in der BDI-Fragebogen Becksches-Depressions-Inventar), um das Vorhandensein bzw. den Schweregrad einer Depression beurteilen zu können.
Eine genaue diagnostische Abklärung ist wichtig, um die methodischen Grundlagen für die Therapie zu legen. So ist z.B. bei einer Depression, welche Ursache für Potenzprobleme ist, eine enge Zusammenarbeit mit dem behandelnden Arzt notwendig und therapeutisch wird es zunächst um die Bekämpfung der Depression und der oft dazugehörenden negativen Gedanken gehen.
Sollte dagegen eine frühere Missbrauchserfahrung Ursache für aktuelle sexuelle Störungen sein, ist eine behutsame Traumatherapie ein möglicher Weg. Hier ist aber dringend darauf zu achten, nicht zu forsch und nicht zu schnell in der Aufdeckung des Traumas zu arbeiten, so wie das in älteren Therapieansätzen vielfach gemacht wurde. Denn durch therapeutische Hauruck-Methoden kann es zu einer Retraumatisierung (Rückversetzung des Klienten mitten hinein in das frühere traumatische Erlebnis) kommen, welche die Symptome nicht heilt, sondern nur noch weiter verstärkt.
Sexualtherapie auf Krankenkasse?
Leider bezahlen die gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland keine Sexualtherapie und keine Paartherapie, da dies als Problem der persönlichen Lebensgestaltung angesehen wird. Ausnahmen gibt es nur, wenn der Focus auf einer separat diagnostizierten psychischen Erkrankung liegt, wie z.B. einer Depression. Da aber setzt bei Kassenpatienten voraus, dass sie einen freien Therapieplatz bei einem psychologischen Psychotherapeuten mit Kassensitz finden, was in der Praxis oft mit 3-9 Monaten Wartezeit verbunden ist.
Einige private Krankenkassen, die eine Heilpraktiker-Zusatzversicherung anbieten, übernehmen auch die Kosten für Psychotherapiestunden nach Heilpraktikergesetz (allerdings nicht die gesetzlichen Krankenkassen wie AOK oder Barmer GEK). Hier lohnt es sich, im Vorfeld einer Therapie mit der Krankenkasse zu sprechen.
Viele Klienten und Klientinnen entschließen sich aber auch dazu, eine Sexualtherapie aus eigener Tasche zu bezahlen. Schließlich ist das der sicherste Weg um sicher zu stellen, dass die Behandlung außerhalb der therapeutischen Beziehung unbekannt bleibt und in keinerlei Akten verzeichnet wird.
Ziele einer Sexualtherapie
Eigene sexuelle Bedürfnisse erkennen
Viele Menschen haben Schwierigkeiten herauszufinden und zu formulieren, was ihre eigenen sexuellen Bedürfnisse eigentlich sind. Oft liegt das an rigiden sexuellen Normen, die möglicherweise schon in der Kindheit durch elterliche oder religiöse Erziehung verinnerlicht wurden.
Manche Menschen haben Angst vor eigenen sehr starken sexuellen Fantasien- und glauben fälschlicherweise, dass jeder Mensch seine sexuellen Fantasien früher oder später komplett ausleben werde. Aus Sicht der Sexualtherapie ist es völlig in Ordnung, sich heftigen sexuellen Fantasien hinzugeben, wenn diese Genuss bereiten und niemandem schaden.
Manchmal liegt das Problem mit eigenen sexuellen Bedürfnissen auch an der Vorstellung, Sex müsse immer und über die ganze Lebenszeit gleich verlaufen- und jede Abweichung könnte heißen, sexuell hinter das zurückzufallen, was schon einmal erlebbar und möglich war.
Das ist insofern erstaunlich, als dass etwa beim Essen, einem durchaus vergleichbaren Grundbedürfnis des Menschen, niemand auf die Idee kommen würde, dass ein und der gleiche Mensch immer dasselbe essen müsste. Man kann durchaus hin und wieder mal Appetit auf einen Hamburger haben, obwohl man eigentlich ganz andere kulinarische Spezialitäten als Lieblingsessen hat.
Auf den Sex übertragen heißt das: Es kann Tage geben, an denen ich auf das „große Programm“ mit meinem Partner oder meiner Partnerin Lust habe- und es kann andere Tage geben, wo ich einfach nur kurz zur Entspannung masturbieren will. Und wieder an anderen Tagen möchte ich zwar gerne gestreichelt werden und kuscheln, brauche aber selbst auch in Gegenwart meiner Partners oder meiner Partnerin überhaupt keinen Orgasmus.
Die eigene Sexualität
kennenlernen und wertschätzen
Wenn ich mit meinem Sexualleben glücklich sein will, ist es wichtig, zu wissen, was hier und heute meine eigenen Bedürfnisse sind- so wie es auch im Restaurant schön ist, sich genau das auf der Karte auszusuchen, worauf man gerade besonders Lust hat.
Es ist wichtig, die eigene Sexualität als positiv und passend anzunehmen. Wer als Mann unbedingt so sein will wie ein Pornostar, entwertet seine eigene Sexualität und kann nichts anderes erleben außer Enttäuschungen. (Zumal er sich von einem Traumbild der Pornoindustrie hat täuschen lassen: Pornofilme sind Zusammenschnitte aus vielen Einzelszenen, die oft an mehreren Tagen gedreht wurden- und definitiv kein Abbild der Realität!)
Aus Sicht der Sexualtherapie ist es ein großer Vorteil, selbst masturbieren zu können. Dadurch habe ich Erfahrung mit meinem eigenen Körper und kann immer wieder austesten, was mich auf körperlicher Ebene besonders erregt. Zudem bin ich auf diese Weise ein Stück weit von meinem Partner/meiner Partnerin unabhängig- und nicht komplett darauf angewiesen, sexuelle Befriedigung nur gemeinsam finden zu können. Der gemeinsame Sex ist schöner, wenn er nicht unter dem kompletten Druck der Bedürfnisbefriedigung stattfindet!
Über sexuelle Themen sprechen lernen
Eines der wichtigsten Ziele einer Sexualtherapie ist es, über sexuelle Themen und insbesondere über die eigenen sexuellen Bedürfnisse sprechen zu lernen.
Viele Menschen schämen sich, vor dem eigene Partner, eigene sexuelle Bedürfnisse und Fantasien auszusprechen- oft aus Angst, lächerlich zu wirken oder zurückgestoßen zu werden, manchmal auch, weil die eigenen Bedürfnisse und Fantasien den eigenen Vorstellungen von den eigenen sexuellen Normen widersprechen.
Die Unfähigkeit, eigene sexuelle Bedürfnisse kommunizieren zu können, ist Hauptursache für die meisten sexuellen Probleme. Sogar körperliche Probleme, wie etwa vorzeitiger Samenerguss oder ausbleibender Orgasmus, haben meist die Wurzel in Versagensängsten, die damit zu tun haben, mit dem Partner nicht offen über die eigenen Bedürfnisse sprechen zu können. Hier ist definitiv eine Sexualtherapie gemeinsam mit dem Partner/der Partnerin der richtige Weg, um solche inneren Blockaden aufzulösen.
Sexualität in der Partnerschaft
leben und genießen
Das wichtigste Ziel einer Sexualtherapie ist es, den sexuellen Akt mit dem Partner bzw. der Partnerin genießen zu können.
Diese Ziel bedeutet mehr als nur die Beseitigung körperlicher Fehlfunktionen. Es ist natürlich völlig in Ordnung, wenn eine ausbleibende Erektion durch einen Besuch beim Urologen und die Verschreibung von Viagra gelöst werden kann.
Aber in vielen Fällen liegt das Problem nicht an der Biochemie und kann daher auch nicht mit Tabletten geheilt werden. Hier ist eine Sexualtherapie der einzige Weg, um weiter zu kommen.
Deswegen müssen in einem ersten Schritt mögliche psychische Erkrankungen ausgeschlossen werden, welche direkte Folgen auf die Sexualität haben, wie z.B. Depressionen, Suchterkrankungen, Traumafolgestörungen. In solchen Fällen wird sich die Therapie erst einmal in Zusammenarbeit mit dem Hausarzt erst einmal diesen Krankheitsbildern widmen- und meist werden die sexuellen Störungen dann im Zusammenhang mit der Heilung der Grunderkrankung von selber wieder verschwinden.
Wenn keine solche psychische Erkrankung im Hintergrund steht, haben die sexuellen Probleme entweder mit eigenen inneren Fehleinstellungen zu tun (siehe die beiden vorherigen Abschnitte) oder sie wurzeln in Konflikten, die in der Partnerschaft selbst liegen.
Mögliche Gründe für sexuelle Probleme können z.B. daran liegen, dass beide Partner feste Erwartungen an ihre „Performance“ haben und jede Abweichung davon als Enttäuschung oder Rückschritt in der Partnerschaft ansehen. Viele Paare haben Schwierigkeiten zu verstehen, dass Sex in der Anfangsphase einer Beziehung, die von der Verliebtheit geprägt ist (und damit auch von sehr viel Blindheit für das tatsächliche Wesen des Partners bzw. der Partnerin) etwas völlig anderes ist als der Sex, der sich im Laufe einer längeren Beziehung entwickeln kann.
Und auch wenn viele dem Sex in der Verliebtheitsphase möglicherweise jahrelang hinterhertrauern- viele Gespräche, diue ich selbst in meiner Praxis geführt habe, zeigen: „richtig guter Sex“ entsteht häufig erst nach mehreren Jahren in der Partnerschaft, wenn beide sich und den anderen rundum kennen und keinerlei Ängste mehr bestehen, miteinander offen und vertrauensvoll über den Sex zu kommunizieren.
Dazu kommt auch der biologische Gesichtspunkt, dass viele Frauen erst mit über 40 in die intensivste Phase sexueller Erregungsfähigkeit in ihrem Leben treten- deswegen ist es sinnvoll, gerade in dieser Zeit miteinander offen im Gespräch zu sein und genau dann vielleicht ganz neue Dinge im Sex auszuprobieren, für die die Zeit vorher noch nicht reif war.
Themen einer Sexualtherapie
Abhilfe bei sexuellen Funktionsstörungen
Der klassische Anlass, eine Sexualtherapie zu beginnen, sind sexuelle Funktionsstörungen wie z.B. erektile Dysfunktion (fehlende oder zu schwache Erektion des Mannes), Orgasmusprobleme bei Mann und Frau, Vaginismus (schmerzhafter Scheidenkrampf bei der Frau).
Wenn hier keine medizinischen Ursachen vorliegen (wie z.B. Hormonstörungen oder Störungen bei Neurotransmittern) sondern nur oder überwiegend psychische Gründe, dann kann eine Sexualtherapie dabei helfen, wieder Vertrauen in das Funktionieren des eigenen Körpers aufzubauen (durch Behandlung möglicher psychischer Störungen, die sich auf die Sexualität auswirken) und durch Gespräche und Übungen gemeinsam mit dem Partner/der Partnerin.
Die sexuelle Orientierung
Ein weiteres Thema in einer Sexualtherapie kann die Frage der eigenen sexuellen Orientierung sein. Es gibt viele Menschen, die sich in der von Ihrer Familie und ihrem sozialen Umfeld erwarteten Rolle als herterosexueller Mann oder heterosexuelle Frau nicht wohl fühlen.
Hier kann eine Sexualtherapie dabei helfen, die eigene Sexualität (z.B. Homosexualität, Transsexualität) besser zu begreifen und Wege zu finden, selbstbestimmt und frei auch im Bereich der Sexualität zu leben, so wie es für den betreffenden Menschen am besten passt.
Häufig geht es hier auch um den Umgang mit Scham und sozialen Ängsten, wie z.B.: Was sagen meiner Eltern/meine Freunde/meine Kollegen dazu, wenn ich mich offen zu meiner Form der Sexualität bekenne und wie gehe ich mit Äußerungen um, die nur wenig Verständnis für mich zeigen?
Umgang mit sexuellen Zwangsgedanken
Von der Frage nach der sexuellen Identität völlig unterschieden ist das Thema „sexuelle Zwangsgedanken“- auch wenn Betroffene häufig das Gefühl haben, es ginge hier um die gleiche Frage.
Sexuelle Zwangsgedanken sind definitionsgemäß Gedanken, die ich als unpassend für mich und als unangenehm empfinde. Typischerweise treten z.B. homosexuelle Zwangsgedanken bei Menschen auf, die in einer prinzipiell zufriedenstellenden heterosexuellen Beziehung leben bzw. zufriedenstellende heterosexuelle Erfahrungen gemacht haben und keine homosexuelle Partnerschaft wünschen.
Häufig entwickeln sich homosexuelle Zwangsgedanken im Rahmen einer depressiven Episode, die biochemisch gesehen ein organisches Problem, nämlich eine Hirnstoffwechselstörung, ist. Weil der Körper die schlechte eigene psychische Befindlichkeit aber nicht als biochemischen Mangelzustand an Serotonin deuten kann, sucht das Hirn nach möglichen Erklärungsmustern und bleibt dann häufig an einem für das Individuum besonders negativen Gedanken hängen. Das kann z.B. die ständige Angst sein, sich öffentlich zu blamieren- oder auch der Gedanke, die eigene Freundin/den eigene Freund verlassen zu müssen, weil man -ohne es zu wollen und ohne das sexuell aufregend zu finden- eigentlich homosexuell sei.
Bei einer solchen Störung sollte die Therapie zunächst einmal auf die Auflösung der Depression zielen (z.B. durch aktivierende Maßnahmen der kognitiven Verhaltenstherapie), und erst danach mögliche Ursachen und Auslöser bearbeiten.
Umgang mit sexuellen Ängsten und Schamgefühlen
Sexuelle Ängste können viele Ursachen haben. Sie können sich als Folge einer rigiden Sexualerziehung entwickeln, können im Zusammenhang einer Selbstwertproblematik stehen oder auch die Wurzel in sexuellen Missbrauchserlebnissen haben.
Sexuelle Ängste können als Angst vor der Nacktheit auftreten (Gymnophobie), aber auch als allgemeine Angst vor körperlicher und psychischer Nähe oder als Angst vor dem sexuellen Akt selbst.
In extremen Fällen können sexuelle Ängste sich steigern bis hin zu einem Ekelgefühl vor der Sexualität insgesamt. Da Ekel biologisch gesehen eine natürliche und gesunde Schutzreaktion ist, kann in solchen Fällen mit großer Sicherheit davon ausgegangen werden, dass eine Traumatisierung durch sexuellen Missbrauch die Ursache für die Ekelgefühle darstellt.
In weniger ausgeprägten Fällen können sexuelle Ängste als übersteigertes Schamgefühl auftreten. Schamgefühle entstehen, wenn die eigene Intimitätsgrenze verletzt wird- wenn wir uns bloßgestellt oder gedemütigt fühlen. Im sexuellen Bereich lassen auch solche Gefühle darauf schließen, dass unsere sexuellen Grenzen in der Vergangenheit nicht geachtet worden sind und uns das Schamgefühl davor schützen will, noch einmal in eine solche Situation zu kommen.
Ein solcher Schutz ist sicher sinnvoll und gut, wenn er uns vor sexuellen Übergriffen warnt, die wir nicht haben wollen. Schwierig ist es aber, wenn die Schamgefühle auch in der sexuellen Begegnung mit einem geliebten Partner oder geliebten Partnerin übermächtig sind und uns daran hindern, sexuellen Genuss zu empfinden.
Eine psychotherapeutische (traumatherapeutische) Behandlung ist in Fällen von Sexualangst, starken Schamgefühlen und sexuellem Ekel unbedingt sinnvoll- denn eine lustvoll erlebte Sexualität ist ein Stück Lebensqualität, auf das wir ansonsten verzichten würden.
Umgang mit negativen sexuellen Erlebnissen und Missbrauchserfahrungen
Wie schon in den voranstehenden Abschnitten aufgezeigt, spielen negative sexuelle Erlebnisse und Missbrauchserfahrung häufig eine Rolle, wenn es um sexuelle Probleme oder sexuelle Funktionsstörungen geht.
Hier ist eine behutsame Diagnostik gefragt, die nicht nur ein Nachforschen um des Nachforschens willen ist, sondern immer den Belastungsgrad des Klienten bzw. der Klientin im Blick hat und die Abwägung, ob und inwieweit das Bearbeiten traumatischer Erfahrungen die gegenwärtige Lebenssituation und sexuelle Zufriedenheit verbessern kann.
Psychotherapeutische Methoden
Therapeutische Gesprächsführung in der Sexualtherapie
Wichtigste Therapiemethode ist das Gespräch, in dem der Therapeut dem Klienten/der Klientin in wertschätzender Haltung zuhört und einfühlsam und offen auf dem Weg durch die Therapie begleitet.
Dabei ist es der Klient/die Klientin selbst, welche die Inhalte und auch das Tempo bestimmt, wie die Therapie vorangehen soll. Wissenschaftlich ist die Wirksamkeit dieser Grundprinzipien der Gesprächstherapie durch zahlreiche Studien erwiesen.
Behutsamkeit im Umgang mit sexuellen Themen ist unbedingt zu beachten. Brachiale Therapiemethoden, wie sie besonders in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts modern waren und die intensiv auf körperliche Berührungen setzten, haben sich nicht nur als wenig wirksam, sondern häufig sogar als gefährlich erwiesen. Denn gerade im Bereich Sexualität kann es zurückliegende traumatische Erfahrungen geben, die nicht durch brutale Therapiemethoden unvermutet wachgeschüttelt werden dürfen.
Sexualtherapie mit praktischen Übungen
So das im Rahmen einer Therapie sinnvoll ist, können Übungen in der Sexualtherapie eine schöne Ergänzung zu den Therapiestunden ergeben. Körperliche Übungen wie z.B. Sensate Focusing finden allerdings nie in Gegenwart des Therapeuten bzw. in den Praxisräumen statt, sondern werden dem Klienten/der Klientin bzw. dem Paar als Übung mitgegeben.
Eine erste praktiche Übung in der Sexualtherapie kann zum Beispiel die Aufgabe sein, eine Woche lang auf den Koitus zu verzichten und statt dessen intensive Streichelübungen zu machen, um gegenseitig ein neues Körpergefühl zu bekommen und zu lernen, dass körperliche Nähe auch ohne Koitus ein itensives sexuelles Erlebnis sein kann.
In der folgenden Therapiestunde können beide dann die Erfahrungen aus der „Hausaufgabe“ berichten und gemeinsam mit dem Therapeuten überlegen, welche Punkte besonders intensiv und positiv gewesen sind bzw. bei welchen Punkten vielleicht noch Verbesserungsbedarf besteht.
So lernen die Partner von Übung zu Übung sexuelle Bedürfnisse besser ausdrücken zu können- und bis zur nächsten Stunde vielleicht auch besser umzusetzen.
Mixed methods in der Sexualtherapie
Dazu ist es notwendig, dass dem Therapeuten ein breites Spektrum unterschiedlicher psychotherapeutischer Methoden zur Verfügung steht. Ich selber habe sehr gute Erfahrungen mit einer solchen mixed-methods-Herangehensweise gemacht.
Ein sehr wichtiger Punkt ist aus meiner Erfahrung, dass der Therapeut kein vorgefertigtes Programm in der Therapie abspielt, sondern, wie es der Psychiater Irvin Yalom (in seinem Buch „Der Panama-Hut“ einmal formuliert hat, „für jeden Klienten die passende Therapie neu erfindet“.
Je nach Klient und Klientin, aber auch je nach der aktuellen Situation in der Therapiestunde hier und jetzt arbeite ich selber mit Elementen der Gesprächstherapie (Carl Rogers), der Psychoanalyse (Sigmund Freud), der Gestalttherapie (Fitz Perls), der kognitiven Verhaltenstherapie, der Emotionsregulation (in Anlehnung an Ideen aus dem Bereich der dialektisch-behavioralen Therapie nach Marsha M. Linehan ) sowie des Achtsamkeitstrainigs und weiterer Therapiemethoden, die für bestimmte Störungsbilder speziell geeignet sind.
Ganzheitliche Sexualtherapie
Sexualtherapie ist in ihrer Gesamtheit hochkomplex. Auf körperlicher Ebene geht es um die Behandlung körperlicher sexueller Funktionsstörungen wie z.B. Erektionsstörungen oder Scheidentrockenheit.
Aber es wäre aus meiner Sicht ein therapeutischer Fehler, sich nur auf diese körperlichen Störungsbilder zu begrenzen. Genauso wichtig ist es, mögliche psychische Erkrankungen, die im Hintergrund als eigentliche Ursache stehen können, zu erkennen und therapeutisch (und ggf. auch medizinisch) zu behandeln, wie z.B. eine noch unerkannte Depression.
Für mich ist das eigentliche Ziel einer Sexualtherapie die ganzheitliche Sorge für eine glückliches Sexualleben– und dazu gehört nicht nur das gute Funktionieren des Körpers und psychische Gesundheit, sondern auch und vor allem ein gutes Verständnis für sich selbst und für den Partner. In diesem Sinne hat eine Sexualtherapie dann ihr Ziel erreicht, wenn sie zu einer gesteigerten Zufriedenheit im Sexualleben führt und damit zu einer Verbesserung der Lebensqualität des Klienten/der Klientin.
2 Antworten auf „Was ist Sexualtherapie eigentlich? Geschichte, Methoden und Praxis“
das ist ja interessant, dass wie du sagst (unentdeckte) Diabetes einen Einfluss aufs Sexualleben haben kann ??
lg
Hallo Andreas,
Diabetes kann tatsächlich ganz allgemein zu verminderter sexueller Lust führen, außerdem bei Männern zu Erektionsstörungen und bei Frauen zu Scheidentrockenheit. Deshalb ist vor einer Sexualtherapie immer auch eine medizinische Untersuchung erforderlich. Es wäre ein therapeutischer Kunstfehler, ohne eine solche Abklärung mit einer Psychotherapie zu beginnen.
HG, Michael Petery.