Sexuelle Zwangsgedanken-
Inhalt
Wenn Fantasien zur Qual werden
Menschen denken häufig an Sex: nach einer Studie der Ohio State University aus dem Jahr 2011 denken Männer tagsüber durchschnittlich etwa alle 30 min einmal an Sex, Frauen ungefähr alle 60 min (was übrigens ungefähr der Häufigkeit entspricht, mit der wir an Essen und Trinken denken).
Sexuelle Zwangsgedanken
erkennen und richtig einordnen
Die meisten Menschen empfinden sexuelle Gedanken als angenehm. Und aus Sicht der Sexualtherapie ist ein solches regelmäßiges Denken an Sex bzw. Essen sogar ein Zeichen psychischer Gesundheit und Selbst-Achtsamkeit. Gesund ist ein Mensch, der auf seine Bedürfnisse achtet- fehlende Selbst-Achtsamkeit macht krank.
Wo liegt also die Grenze zwischen gesunden Gedanken an Sex und sexuellen Zwangsgedanken? Die Häufigkeit, mit der ein Mensch an Sex denkt, ist für sich allein KEIN Kriterium dafür, dass sexuelle Zwangsgedanken vorliegen.
Was genau sind eigentlich
sexuelle Zwangsgedanken?
Nach der ICD-10, dem Krankheitenkatalog der Weltgesundheitsorganisation, müssen folgende Bedingungen vorliegen, damit es sich bei solchen Gedanken tatsächlich um ZWANGS-Gedanken handelt:
- Die Gedanken werden als zur eigenen Person gehörig erlebt.
- Die Gedanken sind nicht angenehm.
- Die Gedanken wiederholen sich fortwährend und dauern zeitlich mindestens 2 Wochen an (bis hin zu Jahren).
- Versuche, dieses Denkkarussell zu durchbrechen, sind meist erfolglos.
Zwangsstörungen sind für die Betroffenen eine große Belastung. Ca. 2-3 Prozent der Bevölkerung sind in ihrem Leben von Zwangsstörungen betroffen.
Die Erkrankung beginnt oft schon in der Pubertät. Verschlimmerungen können schubweise durch besondere Lebensumstände ausgelöst werden, z.B. Schwangerschaft, Arbeitslosigkeit.
Die Ursache der Erkrankung liegt nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen meist sowohl an einer Störung des Hirnstoffwechsels (also einer rein körperliche Ursache, die mit Medikamenten behandelt werden kann) als auch in eingeübten Gedankenmustern, die eine psychotherapeutische Behandlung erfordern. Die Lebensqualität kann bei manchen Menschen so sehr darunter leiden, dass Suizidrisiko besteht.
Deshalb ist eine Zwangsstörung als Krankheit immer sehr ernst zu nehmen. Eine ärztliche oder therapeutische Behandlung ist unbedingt angebracht.
Was sind keine sexuelle Zwangsgedanken?
Keine sexuellen Zwangsgedanken sind gemäß obiger Definition der Weltgesundheitsorganisation:
- Angenehme erotische Fantasien
Auch wer sehr oft an Sex denkt, hat deswegen noch lange keine sexuellen Zwangsgedanken. Denn Häufigkeit allein ist kein Kriterium für Zwangsgedanken. Damit ein sexueller Gedanken ein Zwangsgedanke ist, muss hinzukommen, dass dieser Gedanke als unangenehm erlebt wird. Im Extremfall sind demnach sogar sexuelle Gewaltfantasien dann keine Zwangsgedanken, wenn sie dem Denkenden Lust bereiten und ihn nicht selber bedrücken. - Vorübergehende unangenehme sexuelle Gedanken
Unangenehme sexuelle Gedanken können aus eigenen Erlebnissen, aber auch aus einem Film oder einem Buch herrühren und einen durchaus einige Tage lang beschäftigen. Solange sich solche Gedanken aber nicht festsetzen und nicht mehr als zwei Wochen lang das Denken beschäftigen, handelt es sich nicht um Zwangsgedanken. - Leicht beängstigende sexuelle Fantasien, die Lust bereiten
Auch leicht beängstigende sexuelle Fantasien (wie z.B. Fantasien von Gewalt, Fetisch oder Homosexualität) sind keine sexuellen Zwangsgedanken, wenn sie letztlich dazu dienen, die sexuelle Lust zu erhöhen. Ein Zwangsgedanke liegt nur dann vor, wenn der Gedanke in keiner Weise als angenehm empfunden wird (und auch nicht zur erotischen Selbststimulation dient). - Häufiger Pornokonsum
Auch mehrmals täglicher Pornokonsum oder der Wunsch nach solchem hat mit dem Thema sexuelle Zwangsgedanken nichts zu tun, solange das betroffene Individuum darunter nicht leidet. Zu prüfen wäre nur, ob es sich um Pornosucht handeln könnte- was aber etwas anderes ist als Zwangsgedanken.
Beispiele für sexuelle Zwangsgedanken
Der Inhalt sexueller Zwangsgedanken kann individuell sehr unterschiedliche sein. In diesem Blog habe ich einige typische Fallbeispiele gesammelt:
1. Homosexuelle Zwangsgedanken (vgl. Fallbeispiel)
Homosexuelle Zwangsgedanken liegen vor, wenn ein heterosexuell veranlagter Mensch regelmäßig und zwanghaft von dem Gedanken gequält wird, ob er denn möglicherweise homosexuell sein könnte.
Kennzeichen dafür, dass es sich tatsächlich um Zwangsgedanken handelt, ist, dass diese Gedanken als unangenehm und unangebracht empfunden werden und keinerlei sexuelle Lust bereiten. Zu solchen homosexuellen Zwangsgedanken kann auch die Zwangshandlung hinzukommen, sich regelmäßig als „Selbsttest“ Schwulenpornos anzusehen- obleich das Ansehen keinerlei Lust erzeugt und möglicherweise sogar Ekelgefühle hervorruft.
Aber Vorsicht vor einem zu schnellen Urteil:
Wenn das Ansehen der Schwulenpornos zwar keine Lust erzeugt, aber auch nicht als unangenehm empfunden wird, ist es auch möglich, dass der Betroffene schlicht nur unsicher in seiner eigenen sexuellen Rollenfestlegung ist. Die ausbleibende Erregung bei Schwulenpornos hätte dann die Ursache in der Angst, sich selbst die eigene Homosxualität oder Bisexualität einzugestehen.
Umgekehrt kann es aber auch bei Menschen mit sexuellen Zwangsgedanken durchaus zu leichten körperlichen Erregungsvorgängen kommen. (Allein, dass ich an ein sexuelles Thema denke, kann mich erregen, obwohl ich für genau dieses Thema gar keine sexuelle Präferenz habe.) Durch die englischsprachige Fachliteratur hat sich inzwischen auch im Deutschen der Begriff „groinal response“ hierfür eingebürgert.
2. Ständige Eifersucht (vgl. Fallbeispiel)
Ständige Eifersucht wegen möglicher sexueller Fehltritte des Partners (ohne dass dafür irgendwelche tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen), ist eine häufige Form sexueller Zwangsgedanken. Das kann soweit gehen, dass zwanghaft immer wieder ganze Szenarien über die fantasierte Untreue des Partners bzw. der Partnerin durchgedacht werden müssen.
Hier handelt es sich eindeutig um sexuelle Zwangsgedanken, wenn
1. diese Gedanken tatsächlich nur unangenehm sind (und nicht eine doch irgendwie verquere, aber lustbringende Fantasie)
2. das Wissen da ist, dass diese Vorstellungen keinen Anlass in der Wirklichkeit haben (ansonsten wäre das eine Wahnvorstellung).
- Weitere Beispiele
Was könnten unangenehme wiederkehrende
sexuelle Gedanken noch sein?
- Angstbesetzte sexuelle Gedanken
Viele sexuell erregende Fantasien sind angstbesetzt: dazu gehören insbesondere sexuelle Gewaltfantasien (z.B. eigenes Vergewaltigtwerden), aber auch homoerotische Fantasien bei Menschen, die sich selbst eigentlich als heterosexuell sehen wollen. Diese Fantasien sind durchaus angstbesetzt, haben aber letztlich einen eigentümlichen sexuellen Reiz.In solchen Fällen lohnt sich eine therapeutische Abklärung, inwieweit sich diese Fantasien auch ohne Angst als Quelle sexueller Lust oder zur Entwicklung der eigenen Persönlichkeit positiv nutzen lassen. Speziell bei schweren aktiven sexuellen Gewaltfantasien ist eine therapeutische Abklärung nötig, inwieweit hier die Gefahr besteht, dass der Betroffene zum tatsächlichen Täter wird und seine Fantasien irgendwann auch in der Realität ausleben muss.
- Flashbacks und Intrusionen
Unangenehme sexuelle Gedanken können Erinnerungssplitter von sexuellem Missbrauch und sexueller Misshandlung in der Kindheit oder nach einer Vergewaltigung sein. Oft entwickeln Opfer erst lange nach dem traumatisierenden Ereignis Symptome, die körperlicher Natur sein können (Zittern, Schweißausbruch etc.), aber auch als belastende Gedanken auftreten können: Erinnerungsfragmente, Alpträume, bedrohliche Fantasien…In solchen Fällen ist unbedingt der Weg zu einem kompetenten Therapueten erforderlich, der abklärt, ob eine PTBS (posttraumatische Belastungsstörung) nach Missbrauch vorliegt. Vgl. dazu den ausführlichen Beitrag: Missbrauch und Trauma.
- Nebensymptom einer Depression
Grübelzwang und negative Gedanken sind oft Anzeichen für das vorliegen einer depressiven Erkrankung. Da eine spontane Heilung ohne ärztliche und/oder therapuetische Hilfe bei Depressionen eher unwahrscheinlich ist, lohnt sich bei sexuellen Zwangsgedanken auf jeden Fall der Weg zum Arzt oder Therapeuten- allein um das Risiko des Vorliegens einer unerkannten Depression auszuschließen bzw. bei einer Depressions-Diagnose die entsprechenden therapeutischen Möglichkeiten zu nutzen und sicherzustellen, dass sich die Symptome nicht immer weiter verschlechtern.
Sexuelle Zwangsgedanken:
Möglichkeiten der Therapie
Zwangsgedanken müssen nicht sein! Und schon gar nicht im Bereich der Sexualität, die so konstituierend für unser gesamtes menschliches Wohlbefinden ist.
Zwangsgedanken sind zwar für die Betroffenen kaum alleine und ohne Hilfe auflösbar- es gibt aber mittlerweile eine ganze reihe gut erforschter therapeutischer Verfahren (überwiegend aus dem Bereich der Verhaltenstherapie), mit denen sich Zwangsgedanken schon in relativ weniger Sitzungen gut in den Griff bekommen lassen.
Das gilt auch für Zwangsgedanken auf sexuellem Gebiet. Es ist daher sinnvoll, sich nicht unnötig lange mit solchen Gedanken herumzuquälen, sondern sich kompetente therapeutische Hilfe zu holen.
Vgl. auch den Artikel:
HOCD (Homosexuelle Zwangsgedanken)
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Wenn Sie dazu weitere Fragen haben, freue ich mich über Ihre Nachricht.
Mit freundlichen Grüßen
© M.Petery.
Dr. rer. biol. hum. Michael Petery
2 Antworten auf „Sexuelle Zwangsgedanken – wie wird man sie los?“
Hallo Herr Petery,
vielen Dank für den interessanten Artikel!
An einer Stelle bin ich aber nicht ganz bei Ihnen. Sie schreiben:
„Aber Vorsicht vor einem zu schnellen Urteil: Wenn das Ansehen der Schwulenpornos zwar keine Lust erzeugt, aber auch nicht als unangenehm empfunden wird, ist es möglich, dass der Betroffene schlicht nur unsicher in seiner eigenen sexuellen Rollenfestlegung ist. Die ausbleibende Erregung bei Schwulenpornos hätte dann die Ursache in der Angst, sich selbst die eigene Homosxualität oder Bisexualität einzugestehen.“
Das finde ich ebenso vorschnell geurteilt. Sexualität ist ein Kontinuum und kein starres Konstrukt. Es gibt sogar Menschen, die Erfahrung entgegen ihrer sexuellen Orientierung sammeln (z.B. Homosexuelle Männer, die in der Jungend auch mal mit Frauen schlafen) und dabei nichts unangenehmes empfinden, aber dennoch für sich feststellen, dass das nicht das passende für sie ist, bzw. dass sie sich anderweitig sexuell mehr angesprochen fühlen.
Zu schlussfolgern, dass man womöglich homo- oder bisexuell ist, wenn man beim betrachten von homosexueller Pornographie nicht erregt wird bzw. keine Lust empfindet, es aber auch nicht als unangenehm wahrnimmt, finde ich sehr an den Haaren herbeigezogen. Zudem kann es auch bei Menschen mit sexuellen Zwangsgedanken durch aus zu leichten körperlichen Erregungsvorgängen kommen. Durch die englischsprachige Fachliteratur hat sich inzwischen auch im Deutschen der Begriff „groinal response“ hierfür eingebürgert.
Ich denke, die genannte Passage in Ihrem Text könnte Menschen mit homosexuellen Zwangsgedanken unnötig verunsichern.
Hallo Herr R.,
danke für den differenzierten und hilfreichen Kommentar.
Dazu zwei Gedanken:
1.) Zu schlussfolgern, dass man womöglich homo- oder bisexuell ist, wenn man beim Betrachten von homosexueller Pornografie nicht erregt wird bzw. keine Lust empfindet, es aber auch nicht als unangenehm wahrnimmt, finde ich sehr an den Haaren herbeigezogen. Das wollte ich ganz bestimmt nicht sagen, richtig wäre: Es ist falsch zu folgern, dass man unmöglich homo- oder bisexuell ist, wenn man beim Betrachten von homosexueller Pornografie nicht erregt wird. Es gibt ja auch genügend heterosexuelle Menschen, die von heterosexueller Pornografie nicht erregt werden, oder heterosexuelle Menschen, die bei einer homosexuellen Filmszene erregt werden, ohne selber homosexuell zu sein.
2.) Den Hinweis auf die „groinal response“ , die auch ich aus der Fachliteratur kenne, nehme ich gern in den Artikel auf. (Steht jetzt schon oben im Text.)
Besten Dank und herzliche Grüße
Michael Petery