Normal oder nicht? (Henri de Toulouse-Lautrec: Der Kuss (Detail)
Normal-
die Vorstellung vom erlaubten Normsex
normal
Leider gibt es in unserer Gesellschaft immer noch zahlreiche, oft sogar unbewußte Normen in Bezug auf Sex, die sexualtherapeutisch keinen Sinn machen und bei den Betroffenen viel sexuelle Lebensfreude zerstören können.
Eine solche „Normsex“-Vorstellung könnte etwa so aussehen:
- Sex nur zwischen Mann und Frau
(möglichst miteinander verheiratet) - Kurzes sexuelles Vorspiel mit Umarmung und Kuss
- Gang ins Schlafzimmer,
Sex findet nackt und auf der Matratze statt
(am besten im Dunkeln und unter der Bettdecke) - Mann dringt mit seinem Glied in die Vagina der Frau ein.
- Frau bekommt einen Orgasmus, Mann (möglichst gleichzeitig, aber erst nach einer gewissen Dauer) auch.
- Beide duschen und wenden sich anderen Beschäftigungen/Themen zu.
Eine Normierung des Sex nach diesen Vorgaben verengt die Möglichkeiten des Sex erheblich.
Für viele Menschen ist die Einhaltung dieser Vorgaben allein aus körperlichen/genetischen Gründen überhaupt nicht möglich.
Die meisten Frauen können rein körperlich unter diesen Vorgaben nicht zum Orgasmus kommen (siehe Artikel Weiblicher Orgasmus). Viele Männer bekommen ihren Orgasmus zu schnell und können daher die Frau nicht befriedigen (Ejaculatio praecox- vorzeitiger Samenerguss).
Normal oder nicht normal-
die Verbotsliste des Normsex
Als verboten bzw. zumindest problematisch erscheinen aus der Sicht des Normsex unter anderem:
- Homosexualität
- Fetischismus
- BDSM
- Onanie/Selbstbefriedigung
- Sex, der nicht im Schlafzimmer stattfindet
- jeder Orgasmus, der nicht im Koitus passiert
- jeder Orgasmus, der „zu früh“ passiert
Normal oder nicht normal- beim Normsex
zählt nur der Orgasmus des Mannes
Eine weitere Vorgabe des Normsex ist es, dass der Mann zwingend während des Koitus zu kommen hat- und zwar in einer Zeit, die mindestens einige Minuten dauert, aber auch nicht deutlich über einer Viertelstunde liegt.
Kommt der Mann nach den Vorgaben des Normsex zu früh, ist das eine Krankheit, also ein vorzeitiger Samenerguss (ejaculatio praecox). Kommt er gar nicht, hat gar kein „richtiger Sex“ stattgefunden und der Mann gilt als impotent. (Das katholische Kirchenrecht, das die Scheidung streng ablehnt, erklärt bei einem solchen Ehehindernis auf Antrag sogar eine kirchlich geschlossene Heirat für ungültig.)
Nach den Vorgaben vom Normsex ist also Sex, bei dem der Mann nicht im Koitus seinen Orgasmus bekommt, überhaupt kein Sex.
Erstaunlicherweise ist die umgekehrte Frage, ob die Frau beim Koitus einen Orgasmus bekommt oder nicht, für den Normsex kein Kriterium. Auch wenn nur er kommt und sie nicht: das ist aus der Sicht des Normsex immer noch Sex.
Richtig schlimm wird es dagegen, wenn sexuelle Handlungen nicht einzig und allein den (ehelichen) Koitus und den Orgasmus im Koitus zwischen Mann und Frau anstreben. Alle solchen Normabweichungen gelten dann als Perversion.
Normal oder nicht normal-
Kuschelideale der 60er und 70er Jahre
Die sexuelle Revolution im Rahmen der Studentenbewegung der 60er Jahre hat die Vorstellungen des bis dahin weitgehend geltenden Normsex heftig in Frage gestellt.
Gleichzeitig wurden allerdings neue Normen aufgebracht, die bewußt oder unbewußt viele Menschen auch heute noch stark im sexuellen Bereich beeinflussen. Demnach gilt -hier zur Verdeutlichung etwas überspitzt formuliert- folgendes sexuelles Ideal:
- Sex findet spontan statt zwischen zwei Menschen, die nicht nur sexuell, sondern auch ideell miteinander verbunden sind
- Sex ist zärtlich und liebevoll, niemals gewaltsam („Kuschelsex“)
- Sex passiert „wie von selbst“, wenn beide Partner völlig entspannt sind
Auch mit der Norm vom Kuschelsex ist alles verboten und ausgegrenzt, was nicht zwischen zwei Partnern stattfindet (also Onanie) oder nicht ganz so zärtlich daherkommt (also BDSM).
Normal oder nicht normal-
eine sexualtherapeutische Sicht
Der Nachteil sexueller Normvorstellungen -ganz gleich ob es der traditionelle Normsex ist oder die Norm vom Kuschelsex- ist, dass solche Normen zwar ein Ideal einer Epoche ausdrücken können, aber konkret bei den wenigsten Menschen richtig stimmig sind.
Jeder Mensch ist in seinen sexuellen Möglichkeiten und Wünschen unterschiedlich- und kann sich immer wieder in seinem Leben verändern. Wer sehr stark von sexuellen Normen geprägt ist, läuft Gefahr, die eigene Sexualität als unstimmig in Bezug auf diese Normen zu erleben. Daraus können sich vielfältige Probleme im eigenen Sexualleben entwickeln: Ängste, Minderwertigkeitsgefühl etc.
In vielen Therapien geht es daher weniger darum, sexuelle Probleme in engerem Sinn zu lösen. Weit häufiger ist das wichtigste Thema einer Sexualtherapie, den Klienten/die Klientin dabei zu unterstützen, sich von bestimmten, nicht zu einem passenden Vorstellungen vom Normsex zu lösen und der eigenen Sexualität Raum zu geben, die in den meisten Fällen nicht den Vorgaben des Normsex genügt.
Für die Frage, ob ein Mensch aus der Sicht der Sexualtherapie „normal“ ist, genügt es, zwei kurze Fragen zu stellen:
- Bin ich dazu fähig, ein erfülltes Sexualleben zu führen?
- Fügt mein Sexualleben mir selbst oder anderen Menschen einen Schaden zu?
Sobald Sie die erste Frage mit Ja und die zweite mit Nein beantworten können, ist aus der Sicht des Sexualtherapeuten alles in Ordnung.
Sollte das nicht der Fall sein, könnte sich der Gang zum Sexualtherapeuten lohnen.
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Wenn Sie möchten, freue ich mich über Fragen und Kommentare.
© M.Petery.
Dr. rer. biol. hum. Michael Petery
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